Vielleicht bin ich enttäuscht, jedenfalls aber unzufrieden: ich war eben nicht gut. Und manchmal, wenn von der Zeugnisnote ein Ausbildungsplatz oder der Wechsel auf eine andere Schule abhängt, heißt es sogar: nicht gut genug!
Längst sind es ja nicht nur die Schulkinder, die Zeugnisse bekommen: Auf Internet-Foren kann man Lehrkräfte benoten, und selbst außerhalb der Schule gibt es Produktbewertungen mit mehr oder weniger Sternen, Seminare werden nach Lernerfolg und Kundenzufriedenheit evaluiert, internationale Rating-Agenturen erschüttern die Weltwirtschaft… In einer immer unübersichtlicher werdenden Welt sollen solche Bewertungen helfen, sich schnell ein Bild machen, vergleichen und Entscheidungen treffen zu können, ob das nun der Kauf einer Zahncreme oder ein internationaler Großkredit ist.
Deshalb können solche Bewertungen ja durchaus sinnvoll sein – und auch für uns Menschen ist es gut, Rückmeldungen zu bekommen. Manchmal ist das eine Anerkennung, manchmal vielleicht auch eine kritische oder besorgte Rückfrage: „Du siehst in den letzten Tagen so müde aus…“ Im besten Fall entwickelt sich ein Gespräch darüber: Wer bin ich, wie sehen mich andere Menschen, und wer möchte ich eigentlich sein?
Weder Kinder noch Erwachsene lassen sich aber ganz durch ein Raster erfassen, wie sorgfältig es auch gestrickt sein mag und wie achtsam die Beurteilung erfolgt. Jeder Mensch ist immer noch viel mehr als seine Zeugnisnoten, seine Beurteilungen und seine Bewertungen im Internet. Und viele Menschen sehnen sich danach, in all ihrer bunten Vielschichtigkeit, mit all ihren Licht- und Schattenseiten, gesehen zu werden. Dafür braucht es einen liebevollen Blick, das achtsame und respektvolle Hinschauen. In der jüdisch-christlichen Tradition stellen wir uns vor, dass Gott uns so sieht, so achtsam und zärtlich. In einem Psalmlied wendet sich jemand voller Vertrauen an Gott und singt: „Du siehst mich ganz, so wie ich bin – Herz und Nieren hast du geprüft, und du bist immer noch bei mir!“ Gott sieht mich, wie ich - und Gott sieht mich liebevoll an, für Gott bin ich so kostbar wie eine ganze Schatztruhe!
Letzte Woche war Zeugnistag. Für die kommenden Wochen möchte ich Ihnen vorschlagen: Machen Sie doch mal Ferien von den Noten und Bewertungen! Auch Erwachsene könnten ihren Urlaub einmal bewusst als Zeit ohne „Qualitätskontrolle“ wahrnehmen – um Abstand zu gewinnen und den ganzen Menschen liebevoll in den Blick zu nehmen, sich selbst und andere. Nutzen Sie eine kleine Auszeit, um miteinander ohne Beurteilungsraster und ohne Qualitätskontrolle zu spielen, zu grillen, zu lachen… Vielleicht entdecken Sie dabei ganz neue, spannende Eigenschaften bei sich und bei Ihren Mitmenschen!
Dr. Ursula Silber
Bildungsreferentin im Tagungs- und Bildungszentrum Schmerlenbach