Ein Schüler hat den Künstler einmal gefragt, ob man an diesen Steinen wirklich hängen bleiben, dadurch hinfallen und sich verletzen kann; das sei doch sehr gefährlich. Demnig antwortete ihm: „Nein, nein, man stolpert nicht und fällt hin, man stolpert mit dem Kopf und mit dem Herzen.“
Mir gefällt dieser Ausdruck sehr: „Man stolpert mit dem Kopf und mit dem Herzen.“ Ich halte es für eine angemessene Erinnerungskultur, gerade wenn es um die Gräueltaten der Nazis an der jüdischen Bevölkerung und anderen geächteten Gruppen geht. Denn es reicht nicht, sich nur zu besonderen Jahrtagen wie am 8. Mai oder am 9. November mit Reden und Gedenkveranstaltungen an schlimme Ereignisse zu erinnern. Dieses individuelle unerwartete im Alltag über Schicksale „Stolpern“ stellt einen anderen Bezug zu Leid und Schuld in meinem Land, in meiner Stadt, in meinem Dorf her.
Und es gibt noch viele solcher „Stolpersteine“, die mir in meinem Alltag begegnen; es sind nicht nur die genannten Messingtafeln. Der Blick auf den Obdachlosen vor dem Bahnhof stellt die Frage nach Solidarität und Wärme in unserer Gesellschaft. Vertrocknete und absterbende Bäume in den Parks und Wäldern zeigen mir, dass die Klimakatastrophe mehr als ein abstrakter Begriff aus politischen Debatten ist. Autoschlangen auf verstopften Straßen lassen uns hoffentlich nachdenken, welchen Preis wir für angebliche Freiheit, Individualität und Bequemlichkeit noch zahlen wollen.
Für ein schönes Leben reicht es nicht, sich nur um das eigene kleine Glück zu kümmern und die Schattenseiten rundherum auszublenden. Täglich „mit dem Kopf und mit dem Herzen stolpern“, wach sein und Konsequenzen ziehen, ist der notwendige Anfang für eine gute Zukunft.
Peter Michaeli,
Leiter der Ehe-, Familien- und Lebensberatung Aschaffenburg
Kreuzwort vom 24. Oktober 2020