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Lob der Zwischenräume

Der Leiter einer Umzugsfirma besichtigt meine Wohnung. Sein Name klingt fremd. Seine Eltern sind Kurden aus einem Dorf im Südosten der Türkei. Ob er gerne in dem Dorf zu Besuch sei, will ich wissen. „Nein, ich bin hier geboren. Für die da unten bin ich Deutscher. Für die Leute hier bin ich Kurde. Ich gehöre nirgendwo richtig hin.“

Dann, mit fachkundigem Blick auf meine Wohnung: „30 Kubikmeter, 80 Umzugskartons". Für seine Kinder, die zweite hier in Deutschland geborene Generation, hofft er: Die werden einmal „richtige" Deutsche sein! Mir sagt er: „Machen Sie sich keine Sorgen!" Er weiß, dass sich Leute kurz vor dem Umzug viele Sorgen machen.
Da geht es um mehr als um Kisten-Chaos. Da wird etwas deutlich, das zu uns gehört: das seltsame Ausgespanntsein zwischen dem „Nicht mehr" und dem „Noch nicht". Ich erlebe es schon seit Wochen. Da gibt es die Zusage zur neuen Stelle, obwohl im Martinushaus alles noch so läuft wie immer. Da gibt es die fristgerechte Kündigung der alten Wohnung noch ohne neuen Mietvertrag. Schließlich wandern die Bilder von den Wänden, die Bücher aus den Regalen und die Teller aus den Schränken. Vor der Haustüre wartet ein Walfisch auf Rädern und nimmt alles auf in seinen großen Bauch. Der Tag kommt, an dem an keiner Klingel mein Name stimmt.
Mein Umzugsprofi ist ein Philosoph. Das „Zwischen" dem „Nicht mehr" im kurdischen Dorf seiner Eltern und dem „Noch nicht" als „richtiger Deutscher" prägt sein Leben. Ob er ganz bewusst das Umziehen zum Beruf gemacht hat, will ich wissen. Da muss er lachen – ja, es passt, sagt er. „Meine Männer bringen Sie gut rüber!" Leute hinüber bringen – das erinnert mich an den Fährmann, der in alten Märchen und Legenden eine wichtige Rolle spielt. Sein Ort hat keine exakten Koordinaten; er ist vielmehr ein weiser Meister der Zwischenräume.
Es gibt viele Zwischenräume: etwa den zwischen Untersuchung und Diagnose und den zwischen Diagnose und OP-Termin! Den zwischen banger Frage und endgültigem Bescheid. Den zwischen der ersten Ahnung, dass sich etwas ändern muss, und der Entschiedenheit, was sich ändern wird. Die Zwischenräume gehören zu uns, die Grauzonen, das „Nicht mehr" und „Noch nicht". Sie sind schwer auszuhalten, unendlich kostbar, nah am Geheimnis von Tod und Geburt. Ich wünsche Ihnen offene Sinne für alle Zwischenräume, in die Sie gestellt sind – egal ob mit oder ohne Umzug – und einen weisen Fährmann!

Dr. Hildegard Gosebrink,
scheidende Rektorin des Martinushauses