Keiner von allen wusste zuvor etwas über einen Elefanten. Die Blinden durften sich dem Elefanten nähern und jeder konnte einen anderen Teil des Tieres berühren. Wieder daheim in ihrem Dorf erzählten die Erkunder den anderen, was der Elefant für ein Tier sei. Einer, der den Rüssel zu fassen bekommen hatte, erzählte, der Elefant sei ein großer Schlauch, der sich bewegt. Ein anderer hatte einen Fuß berührt und beschrieb den Elefanten als eine große Säule wie im Tempel. Und ein Dritter, der das Tier am Ohr gepackt hatte, nannte es einen Teppich, der sich bewegt. Und da der Elefant noch viele Körperteile hat, wichen die einzelnen Beschreibungen stark voneinander ab.
Die „Moral von der Geschicht´" wird meinen schlauen Schülern meist schnell klar: So ist es auch bei uns, wenn wir versuchen, über Gott zu sprechen - jeder hat seine eigene Sicht, seine eigene Wahrheit. Jede einzelne Aussage für sich trifft nur einen Teil des Ganzen und keiner kann alles erklären. Wenn wir aber alle unsere Einsichten und Ideen zusammen nehmen, dann kommen wir dem „Eigentlichen" ein Stück näher.
Die Elefanten-Geschichte und die Gespräche mit den Schülern sind mir wieder in den Sinn gekommen, als ich kürzlich einen markanten Satz gefunden habe: „Wissen in Teilen ist schön; aber Weisheit entsteht, wenn wir das Ganze sehen."
Nicht nur bei der Frage nach Gott, sondern auch in vielen Situationen des persönlichen und gesellschaftlichen Lebens liegt genau da manches im Argen. Wie viel Streit im Kleinen wie im Großen entsteht daraus, dass einzelne Menschen oder Gruppen ihr „Wissen in Teilen" für die ganze Wahrheit halten? Wenn ich mich also wieder einmal im Besitz der vollen Wahrheit wähne, ist es sehr heilsam, mich an diese Geschichte zu erinnern: Auch ich bin nur ein Blinder, der einen kleinen Teil des großen Elefanten ertastet.
Peter Michaeli,
Pastoralreferent und Eheberater in Aschaffenburg