Ich bin einige Tage nach ihrem runden Geburtstag gekommen. Wir sitzen zu zweit in ihrer gemütlichen Zweizimmerwohnung. Seit gut acht Jahren wohnt sie nun im Betreuten Wohnen, nachdem ihr Mann gestorben und das Einfamilienhaus mit Garten einfach zu groß für sie geworden war. Besuch bekommt sie selten. Ihre beiden Kinder leben weit entfernt und wissen ihre Mutter bei der Diakonie in guten Händen. Bekannte rufen ein paarmal im Jahr an, Verwandte hat sie nicht. „Ich bin zufrieden mit meinem Leben“, fasst sie ihre neunzig Jahre Lebenserfahrung zusammen. „Eine gute Ehe, kluge Kinder, eine stabile Gesundheit, eine auskömmliche Rente. Was will man mehr?“
Ich lasse mir Zeit bei meinem Besuch. Auch Zeit zum Nachdenken, Gedankensortieren. Jetztzeit und die Kriegsjahre, sie fallen bei der alten Dame gleichsam zusammen, Zeitläufe verschwimmen. „Hitler hat mir meine Kindheit gestohlen und die Russen meine Jugend. Wir mussten mitten im Winter 45 aus Schlesien fliehen, mit nichts als einem Leiterwagen. Großvater blieb auf dem Hof, den haben die Russen erschlagen. Und Walter, mein großer Bruder, der fiel 43 in Charkow. Das ist doch die Stadt, die die Russen jetzt mit Raketen beschießen, oder?“
Der Gesprächsfaden wogt hin und her und ich spüre, wie die alte Dame mit den Menschen in der Ukraine, aber auch im Gazastreifen, geradezu körperlich mitleidet. Ihr eigenes Schicksal als Kriegskind hat sie offenbar besonders einfühlsam werden lassen. „Ob Putin oder Hitler. Zu leiden haben immer die einfachen Menschen. Was können die denn dafür? Lernt denn die Menschheit nie dazu?“
Mich beeindruckt die alte Dame. Ihr Lebensmut, ihre Zuversicht, aber auch ihre Sorgen um eine friedliche Zukunft. Mein Blick fällt auf eine Spruchkarte auf dem Esszimmertisch: Befiehl dem Herrn deine Wege und hoffe auf ihn, er wird´s wohl machen. „Den hat mir Ihre Gemeinde vor ein paar Jahren geschickt. Das ist mein Konfirmationsspruch. Ich schaue oft darauf. Ohne Gottvertrauen geht es nicht in dieser Welt. Das hat mir immer geholfen.“ Und hat Sie zu einer dankbaren, zufriedenen Frau werden lassen, möchte ich ergänzen. Trotz allem.
Rudi Rupp, evangelischer Dekan am bayerischen Untermain