Alles sollte ja in Ruhe gesichtet und dann aufgebaut werden. Aber groß war der Schreck: „Das Kind fehlt! Wo ist das Kind?“ Eine Weihnachtskrippe ohne Christkind - unvorstellbar! Sollen etwa die Hirten eine leere Krippe anbeten, Josef die Laterne über das Stroh halten und Maria aus Verzweiflung die Hände ringen, statt sie andächtig zu falten? Eine hektische Suche begann: Wo ist das Kind?
Nicht nur im Kloster, sondern auch bei uns schleicht sich manchmal das vorweihnachtliche Unbehagen ein, dass irgendwie etwas ganz Wichtiges fehlt. Alles ist eingekauft, vorbereitet und gerichtet - aber wo nur ist Jesus geblieben? Eigentlich ist es doch sein Geburtstagsfest, oder?
Vielleicht müssen wir ihn anderswo suchen. Nicht, dass es an Weihnachten bei uns nicht schön wäre - aber vielleicht ist nicht die gemütliche Weihnachtsidylle der Ort, an dem sich Jesus finden lässt. Vielleicht begegnen wir ihm in der Küche, wo er gerade in aller Ruhe den Kartoffelsalat abschmeckt. Vielleicht hat er Nachtdienst im Krankenhaus oder im Stellwerk, hilft den Arbeitern, die den Weihnachtsmarkt abbauen, oder teilt sich einen letzten lauwarmen Glühwein mit der einsamen alten Dame, die von der Weihnachtsfeier im Martinushaus kommt.
Eins ist sicher: Einsperren lässt Jesus sich nicht von uns, nicht einmal in eine Weihnachtskrippe. Eigentlich ist er da ja dann doch auch langsam herausgewachsen. Aber dafür kann man ihm überall begegnen, oft an Orten, an denen man ihn nicht unbedingt suchen würde, und in unerwarteter Gesellschaft. Da, wo Menschen ihn besonders brauchen. Und da, wo gelebt wird, wofür Jesus immer eingestanden ist: niemanden ausgrenzen, immer wieder die Hand ausstrecken und jedem eine neue Chance geben, weil jede und jeder einzelne ein Gotteskind ist.
Ob das fehlende Kind im Kloster noch aufgetaucht ist, weiß ich nicht. Aber ganz gleich, ob am Heiligabend ein herziges Jesuskind in der Krippe liegt oder nicht: An vielen Orten wird Gott heute Mensch werden und mitten unter uns sein. Und wenn wir die Augen und Herzen dafür aufmachen, spüren wir vielleicht dieses Wunder.
Dr. Ursula Silber ist Rektorin für Bildung und Konzeption im Martinushaus Aschaffenburg.