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Das Glas Orangensaft

Die ungepflegten ausgetretenen Holzstufen, die ich damals im Hotel „Zur Neuen Heimat“ emporstieg, um Flüchtlinge aus Afrika zu besuchen, könnten wohl viele Geschichten erzählen. Geschichten der Sehnsucht, der Flucht, täglicher Hoffnung auf Asyl. Auf drei Stockwerken führten sie mich zu jungen Schwarzafrikanern aus Togo, Ghana und Nigeria, achtsam auf jedes Stockwerk nach Nationen verteilt, damit sie sich auf Grund ihrer nationalen Unterschiede sowenig wie möglich begegneten.

Auf der ersten Etage angekommen, sah ich eine einsame Herdplatte glühen, ohne dass sich jemand ihrer bedient hätte. Ein Telefonhörer hing lose an der Seite herunter.
Ich war gekommen, um Nadu Deutsch beizubringen, den deutschen Konjunktiv, die Möglichkeitsform also: „Ich könnte, ich möchte, ich hätte, ich würde gerne..." Wie gerne würden sie zumindest hier in der neuen Heimat Heimat finden, dachte ich bei mir.
Ich ging mit Nadu in den Gemeinschaftsraum, ein weiter fast quadratischer Raum, an dessen Wänden die Betten und Schränke klebten. Ich setzte mich mit ihm an den Tisch in der Mitte des Raumes und hörte zunächst ihre Probleme mit der rechtlichen Anerkennung in Deutschland, mit ihren Familien in Afrika, mit einem Freund, der in der Nacht wegen Diebstahls verhaftet worden war. Sie erzählten von Ausweisungen und illegalen Jobs. Dann begann der Sprachunterricht, der wie immer hoch motiviert verlief, etwa so, wie der Togolese Raffael, der mir bei einer ersten Begegnung begeistert auf seiner fünfsaitigen Gitarre ein Lied vorspielte. Nach der Lektion ging Nadu in die Küche und kam mit einem Glas Orangensaft zurück. Er gab es mir in die Hand. Ich nahm es und sah an den Fingerabdrücken, wie schlecht gespült und wie verschmutzt es war. Kann und soll ich aus einem solchen Glas trinken? Ich zögerte für einen Augenblick, doch ich nahm das Glas und trank daraus. Der Saft schmeckte. Während des Trinkens kamen mir die Geschichten in Erinnerung, die den Raum durchzogen, die unwirkliche letztlich inhumane Situation dieser Menschen, ihre Isolation und Einsamkeit und dann doch der frische Geschmack von den Früchten ihrer Heimat, die wir so selbstverständlich genießen.
An dem verschmutzten Glas und in der wortlosen Geste von Nadu hatte ich für einen Augen-blick die Not dieser Flüchtlinge begriffen: „Nimm und trink! So ist unser Leben." Wir sollten annehmen, was sie uns als Anfrage und Stachel in der Konsum -und Wohlstandsgesellschaft sagen könnten.

Peter Spielmann
Pastoraler Mitarbeiter in Obernau