In der Hauptstadt spielt sich das Leben in allen Facetten ab: von der tiefsten Freude bis zum größten Elend, große Empathie und Hilfsbereitschaft, gnadenloser Egozentrismus und alltägliche Hartherzigkeit. Jesus kennt das. Noch bevor er überhaupt in der Stadt ankommt, wird er wohlwollend und freudig begrüßt.
Was ist Ihre Hauptstadt? Wo spielt sich bei Ihnen das Wesentliche ab? In der Arbeit, zuhause, in der Familie, bei Freunden? Ist das ein Einzugsbereich Gottes?
Ist der Einzugsbereich Gottes nur auf die netten Seiten des Lebens beschränkt? Schließlich hören wir oft vom „lieben Gott"! In meiner Hauptstadt geht es aber nicht nur nett und lieb zu. Ist das außerhalb des Einzugsbereichs Gottes? Oder eher mein Rückzugsbereich auch vor Gott?
Ich glaube, dass das Bild vom Einzug eine Einladung an mich ist, mich in meiner Hauptstadt mal wieder umzuschauen, was es jenseits der netten Seiten dort so alles gibt. Wo geht es unmenschlich zu? Bin ich selbst nicht auch ein Teil des Ganzen? Nehme ich das überhaupt wahr?
Jesus geht in die Hauptstadt, weil er um unser Menschsein weiß. Mit diesem Weg zeigt er uns: Menschwerdung gelingt eben nur, wenn wir uns den Höhen und Tiefen, dem Gelingen und Misslingen stellen. Kurz nach dem freudigen Einzug in Jerusalem wendet sich das Blatt und die Emotionen kippen in Richtung Hass, Neid, Feigheit und Missgunst.
Der Palmsonntag kann mich als Eröffnung der Karwoche für diese Emotionen sensibilisieren. Das kann gelingen, wenn ich meine Haupt - Stadt nicht nur im Kopf habe. Es geht um mein Herz, als den Sitz meiner Emotionen. Wenn mein Glaube nur im Kopf sitzt, kann ich auf dem Weg der Menschwerdung nicht viel weiter kommen.
Einzug Gottes in mir kann dann heißen: Alles, was mein Leben ausmacht, vor das unsagbare Geheimnis Gottes bringen. Alles bedeutet dann zunächst meine Licht- und Schattenseiten wahr – nehmen. Und das ist bei Letzteren nicht immer einfach. Und dabei nicht stehen bleiben, sondern: darauf vertrauen, dass Gott nicht lieb ist, sondern die Liebe, die all das umfasst.
Als Vater von vier Kindern habe ich gelernt: Ich kann und will nicht immer nur lieb sein. Es ist ein hartes Ringen um den richtigen Weg. Der Palmsonntag erinnert mich an diesen Prozess des Einübens: Ich bin mit meinen Licht- und Schattenseiten getragen.
Dr. Peter Müller
Fachakademiedirektor