Nun könnte ich mich auf der Seite der Impfbefürworter ausruhen, könnte den Verantwortlichen danken für den Druck, den sie auf Noch-nicht-Geimpfte ausüben, und einfach darauf hoffen, dass es trotz allem nicht zum Allerschlimmsten kommen wird. Und Weihnachten? Das werden wir mit einem ausgefeilten Testkonzept, mit 2G, Abstand und Maske schon irgendwie hinbekommen. Und doch ist das zu wenig. Viele Gespräche, die ich derzeit führe, ernüchtern mich. Die Argumente der Impfskeptiker überzeugen mich nicht. Kein einziges. Doch all mein Reden über wissenschaftliche Erkenntnisse, über Verantwortung für sich und den Nächsten, prallt an meinem Gegenüber ab. Es verpufft, läuft ins Leere, bewirkt vielleicht sogar das Gegenteil, nämlich Trotz und Verhärtung statt Einsicht. Wie also die Krise überwinden? Es war die tiefe Einsicht der Reformatoren, dass der Mensch sich nicht selbst rechtfertigen kann. Selbst durch die frömmsten Werke nicht. Sondern dass es Gott selbst ist, der die Welt mit sich versöhnt hat. Auf unsere Zeit übertragen: Selbst wenn ich erkannt habe, dass Impfen der einzige Weg aus der Krise ist – und daran gibt es für mich nicht den allerkleinsten Zweifel: Ein Werturteil über einen anderen Menschen steht mir nicht zu. Sondern Gott allein. Darum bitte, bleiben wir im Gespräch, kanzeln wir uns nicht gegenseitig ab, respektieren wir uns als Person, auch wenn wir komplett anderer Meinung sind. Oder um noch einmal Clemens Bittlinger mit einem seiner bekanntesten Lieder zu zitieren: Wir wollen aufstehn, aufeinander zugehn, voneinander lernen, miteinander umzugehn. Aufstehn, aufeinander zugehn und uns nicht entfernen, wenn wir etwas nicht verstehn. Das schrieb er bereits 1996. Wäre kein schlechtes Motto für Deutschland 2022, oder?
Rudi Rupp
Evang. Dekan am bayerischen Untermain